Jede therapeutische Einrichtung wie unsere Fachklinik stellt immer einen „Mikrokosmos“ dar, in dem die Patientin in der vorgegebenen Behandlungszeit, ausgehend vom diagnostisch und anamnestisch erfassten Ist-Zustand, bestehend aus Ressourcen und Defiziten zu einem gemeinsam von Patientin und Einrichtung festgelegten Soll-Zustand (Therapieziele) hingeleitet werden soll. Hierbei ist die aktive Teilnahme der Patientin, damit auch ihre Motivation zur Veränderung, Grundvoraussetzung. Welche Methoden und Interventionen (auch ETM’s) angewandt werden, hängt individuell von der Patientin ab. Die Einrichtung hält diese Therapieangebote in einem für sie machbaren Umfang vor. Der Soll-Zustand darf nicht als statisches (geheiltes) Idealbild gesehen werden, sondern muss einerseits immer wieder an die realen Gegebenheiten angepasst werden, zum anderen kann er nur ein Zwischenschritt in der Gesamtbehandlung sein. Somit sieht sich die Einrichtung als Teil eines Verbundsystems der Behandlung.

 

 

Das zentrale Therapieziel im Rahmen der Entwöhnungsbehandlung muss auch weiterhin die Abstinenz sein. Allerdings muss sie eine maßvolle Eingliederung in eine Reihe weiterer Therapieziele finden. So sind aus unserer Sicht die wichtigsten Therapieziele noch vor Abstinenz „Dem Leben einen Sinn geben“ und "Lebensfreude entwickeln".

 

Grundaspekte der Behandlung

Grundlegende Aspekte in jeder pädagogisch oder therapeutisch arbeitenden Einrichtung, wie auch im realen sozialen Leben außerhalb dieser, sind Beziehung und Struktur. Des Weiteren spielt die Komponente Zeit eine zentrale Rolle (siehe Abbildung oben).

Beziehung: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Identität, Charakter und Persönlichkeit sind nur erwerbbar durch intensive, vergleichende, mehr oder weniger subtile Beschäftigung mit den Eindrücken und Beispielen, die andere Menschen bzw. Gruppen, ihre Überzeugungen, ihre Ideale, ihre Werte uns vermitteln. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, dieser Satz von Buber (2002) bringt die soziale Komponente der menschlichen Natur prägnant zum Ausdruck.

Die Entwicklung einer psychischen oder sozialen Störung hat immer auch etwas mit dem sozialen Miteinander des Kranken zu tun. So kann auch die Behandlung nur in einem sozialen Rahmen stattfinden und wirken. Hierbei ist von Seiten der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter eine den Menschen grundsätzlich in all seinen positiven und negativen Fassetten akzeptierende Haltung Voraussetzung. Nur auf dem Hintergrund dieser Akzeptanz (auch teilweise mit Empathie bezeichnet) kann der Therapeut, wenn notwendig, verschiedene Verhaltensweisen kritisieren und den Patienten mit dem Verhalten und den Auswirkungen konfrontieren. Die Bereitschaft der Auseinandersetzung mit ihren Defiziten setzt das Grundgefühl der Akzeptanz voraus. Dieses Miteinander beinhaltet aber auch das Akzeptieren von grundlegenden Strukturen und den Grenzen anderer Personen. Auf diese Grundakzeptanz sollte auch in der Hausgemeinschaft hingewirkt werden, das unbeteiligte Nebeneinander soll vermieden werden.

Struktur: Die Struktur bildet wie im realen Leben, so auch in einer therapeutischen Einrichtung den Rahmen des Miteinanderlebens und –arbeitens. Nie waren psychische Störungen – bereits bei Kindern im Vorschulalter - so gehäuft wie heutzutage, was auf einen Verlust der Familienstrukturen zurückzuführen ist, was wiederum mit der mangelnden Zeit der Eltern und deren Nicht-Verfügbarkeit erklärt wird (DeGrandpre, 2002).

Regeln und Strukturen werden allen Beteiligten (Mitarbeitern und Patienten von Einrichtungsseite oder im realen Leben von der Gesellschaft) vorgegeben, um einen Freiraum für das therapeutische Arbeiten zu schaffen. Da Pubertät (hier im Sinne von Nachreifung) immer ein Auflehnen gegen die vorgegebenen Strukturen der Erwachsenenwelt beinhaltet und Sucht häufig auch etwas mit Strukturverlust zu tun hat, treten in Einrichtungen mit dieser Klientel an den Berührungspunkten von vorgegebener Struktur und gewünschten Freiräumen häufig Konflikte auf. Diese sind aber grundsätzlich positiv zu bewerten und therapeutisch zu bearbeiten. Auch sollen solche Strukturen nicht starr sein, sondern in bestimmten Formen veränderbar.

Zeit: Zeit ist der Aspekt, der unser Leben am nachhaltigsten beeinflusst. Viele der heute rasch zunehmenden psychosomatischen, somatoformen und Erschöpfungszustände werden auf die überfordernde Hektik der modernen Lebenswelten und ständige Verfügbarkeiten zurückgeführt.

Grundsätzlich fließt Zeit linear. Im Zusammenhang mit einer therapeutischen Einrichtung ist auf zwei Aspekte hinzuweisen. Die gemeinsame Zeit ist für Patientin und Mitarbeiter begrenzt. An diesem Rahmen sollen auch die Ziele definiert sein. Häufig ist auf beiden Seiten eine übermäßige Erwartung an die gemeinsamen Möglichkeiten geknüpft, die dann konsequenterweise zu Frustrationen bei Nichterfüllung führen kann. Der zweite Aspekt ist der Entwicklungsgedanke. Die Patientin entwickelt sich im Laufe seines Aufenthaltes. Diese Entwicklung muss aber nicht zwingender Weise linear verlaufen. Es kann zu Rückschritten kommen (z.B. Rückfall). Dies ist Teil einer normalen Entwicklung und natürlich auch jeder Therapie und entsprechend zu akzeptieren und einzuarbeiten.

Ziele der Behandlung

Betrachten wir die Faktoren der Suchtentstehung und -aufrechterhaltung, so sehen wir zum einen, dass diese Faktoren aus allen Bereichen der menschlichen Existenz kommen bzw. auf sie einwirken. Dementsprechend müssen auch die Hilfsangebote, die einem Suchtkranken umfassend helfen sollen, alle diese Bereiche abdecken. So ist eine medizinisch-physiologische Betreuung genauso zu gewährleisten wie psychotherapeutische Interventionen. Zusätzlich ist die Möglichkeit der sozialarbeiterischen Betreuung notwendig. Zum anderen sind bei jedem einzelnen Suchtkranken andere Konstellationen von Störungen vorhanden und diese auch in unterschiedlich starker Ausprägung, so dass ein identisches Angebot für jeden Suchtkranken an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbeiginge. Hinzu kommt die stark differierende Bereitschaft, aufgrund eines unterschiedlich vorhandenen Leidensdrucks auf Hilfsangebote einzugehen. Kurz gesagt, die "Universaltherapie" funktioniert nicht, da es keine "Suchtpersönlichkeit" gibt.

Will ein therapeutisches Angebot alle Punkte berücksichtigen und alle Suchtkranken ansprechen, so muss es aufgrund der Undifferenziertheit, die solch ein breiter Ansatz beinhaltet, scheitern. Der Weg kann nur über eine breite Zahl von unterschiedlichen Angeboten mit unterschiedlicher Tiefe und verschiedenen Ansätzen in verschiedenen Einrichtungen gehen. So kann der Suchtkranke die Maßnahme vorab aussuchen (unter Beratung von Fachleuten, „Case-Management“), die seiner augenblicklichen Motivation zum Ausstieg entspricht. Dies ist die Grundlage des gesamten Hilfesystems (Netzwerkgedanke).

Trotzdem gibt es selbstverständlich auch Gemeinsamkeiten der Krankheit "Sucht", die oben ebenfalls genannt wurden. Diese sind im Therapieangebot zu berücksichtigen und können in einem für alle Klienten gemeinsamen Rahmen in einer Einrichtung bearbeitet werden. Die Bildung von evidenzbasierten Therapiemodulen (ETM) durch die Kostenträger ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Jedes Behandlungsangebot muss also auf die individuellen Probleme und Ressourcen des von ihm angesprochenen Klientel eingehen (inhaltlich wie auch zeitlich), muss aber trotzdem einen grundsätzlich gültigen und allgemein verlässlichen Rahmen bieten.

Fasst man diese Aspekte zusammen, so können folgende Prämissen für eine Suchttherapie formuliert werden:

  • Abhängigkeit ist eine primäre Störung, deren Bewältigung Grundlage der Genesung der Persönlichkeit ist und nicht umgekehrt.
  • Da Sucht eine chronische Krankheit ist, gibt es zwar keine Heilung, aber ein Stillstand kann erreicht werden.
  • Es gibt keine kausale Suchttherapie, da die Ursachen multifaktoriell und im Einzelnen unbekannt sind.
  • Abhängigkeit infiltriert alle Lebensbereiche und erfordert deshalb eine sozio-psycho-somatische Diagnostik und Behandlung.
  • Zentrales Ziel einer jeden Maßnahme sollte langfristig die Abstinenz sein.

Die Aufgabe der Therapie liegt in:

  • der Beseitigung der grundlegenden Störungen,
  • der Stärkung der vorhandenen Ressourcen,
  • der Beseitigung der Suchtverhaltensweisen,
  • der Beseitigung der sekundären Folgen (Komorbidität),
  • dem Ordnen der "äußeren" Realität (Adaption),
  • und vor allem dem "Füllen des Loches".

Unter dem letzten Punkt ist im Sinne von Assfalg (1992) die Sinnfindung für ein suchtmittelfreies Leben zu verstehen. Dieser Punkt wird leider immer wieder unterschätzt. Aber ohne die Entwicklung neuer Lebensziele und dem Aufbau einer tragfähigen Lebensfreude sind nur wenige Suchtkranke bereit, den Weg der Entbehrungen, den die Therapie für sie darstellt, zu gehen.